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DIE GRIECHISCH-ANATOLISCHEN SPRACHKONTAKTE ZUR BRONZEZEIT – SPRACHBUND ODER LOSER SPRACHKONTAKT ?

Key takeaways

  • /-wad-/ hingegen lässt sich als Fortsetzung des griechischen */-wet-/ erklären, das dort als analogische, nach der Vollstufe */-wént-/ gebildete Ersatzform des ursprünglichen */-wnt-/ dient : vgl.
  • Um den linguistischen Befund, der -abgesehen von der in 2. beschriebenen Onomastik -als Beleg für griechisch-anatolischen Sprachkontakt dient, korrekt zu beurteilen, ist vorweg die Kenntnis dieser Bedingungen und Szenarien erforderlich.
  • Durch griechisch-anatolischen Sprachkontakt bedingte Entlehnungen müssen diesen fünf Bedingungen bzw.
  • Damit ein griechisches Lexem als Entlehnung aus den anatolischen Sprachen identifiziert werden kann, muss es zumindest drei der folgenden Bedingungen erfüllen : 2 1) Seine phonologische Gestalt entspricht präzise derjenigen der anatolischen Gebersprache -beziehungsweise lässt sich bei Divergenzen plausibel durch die Wiedergabe von Fremdphonemen im Griechischen rechtfertigen.
  • Anders als in der Bronzezeit präsentiert sich die Situation im ersten vorchristlichen Jahrtausend : Hier treibt der Einfluss der anatolischen Sprachen die Grammatikalisierung im Griechischen voran, was den Weg für strukturelle Änderungen ebnet.
LIN GVARVM VA R IETA S An International, Yearly and Peer-Reviewed Journal. The eContent is Archived with Clockss and Portico. * Diretta da Paolo Poccetti (Università di Roma ‘Tor Vergata’) Comitato scientiico Luciano Agostiniani (Università di Perugia), Philip Baldi (Penn State University), Frédérique Biville (Université Lyon 2), Pier Luigi Cuzzolin (Università di Bergamo), Patrizia de Bernardo (Universidad del País Vasco, Vitoria-Gasteiz), Michèle Fruyt (Paris IV, Sorbonne), José Luis Garcia Ramon (Universität Köln), Daniel Kölligan (Universität Köln), Daniele Maras (‘Sapienza’, Università di Roma), Torsten Meissner (Pembroke College, Cambridge), Anna Orlandini (Université de Toulouse, Le Mirail), Diego Poli (Università di Macerata), Rex Wallace (University of Massachussets), Michael Weiss (Cornell University) LINGVARVM VARIETAS An International Journal 3 · 2014 PISA · ROMA FABRIZIO SERRA EDITORE MMXIV Amministrazione e abbonamenti Fabr izio Serra editore Casella postale n. 1, succursale n. 8, I 56123 Pisa, tel. +39 050542332, fax +39 050574888 I prezzi uiciali di abbonamento cartaceo e/o Online sono consultabili presso il sito Internet della casa editrice www.libraweb.net Print and/or Online oicial subscription rates are available at Publisher’s web-site www.libraweb.net. 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Stampato in Italia · Printed in Italy www.libraweb.net issn 2239-6292 i sbn 9 78 -8 8 -6227- 726- 6 INHALTSVERZEICHNIS strategies of translation: language contact and poetic language akten des workshops köln, 17.-18. dezember 2010 herausgegeben von josé luis garcía ramón · daniel kölligan unter mitwirkung von lena wolberg erster teil 11 Vorwort Martin Becker, Anfänge der rumänischen Schriftlichkeit und Übersetzungsstrategien im Tetraevanghelul in der Kronstädter Edition des Diakon Coresi Marina Benedetti, “Diathesis” / “voice” : loan words and loan translations in the grammatical metalanguage Antje Casaretto, Zur Sprachkontaktsituation im Gotischen : die Verbalkomposita Paola Dardano, Interferenzerscheinungen in den hethitischen Texten : Der Einluss des Akkadischen Emmanuel Dupraz, Zur italischen Rechtssprache : über einige juristische Formeln im Umbrischen und im Lateinischen José Virgilio García Trabazo, Ererbte dichterische Themen in hethitischen und luwischen Personennamen Ivo Hajnal, Die griechisch-anatolischen Sprachkontakte zur Bronzezeit – Sprachbund oder loser Sprachkontakt ? Daniel Kölligan, Graeca in Armenia : Anmerkungen zur hownaban dprocc Françoise Labrique, Herodots Blick auf den Phoinix 105 117 131 Abstracts 155 13 35 43 55 73 95 STRATEGIES OF TRANSLATION : LANGUAGE CONTACT AND POETIC LANGUAGE akten des workshops köln, 17.-18. dezember 2010 herausgegeben von josé luis garcía ramón · daniel kölligan unter mitwirkung von lena wolberg i. VORWORT A m 17. und 18. Dezember 2010 fand am Institut für Linguistik – Abteilung Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität zu Köln ein Workshop mit dem Titel „Strategies of Translation : Language Contact and Poetic Language“ statt. Er stand im Zusammenhang mit einer Reihe von vorbereitenden Maßnahmen für die Beantragung eines Exzellenz-Clusters „Linguistic Theory in Action“. Die in diesem Band abgedruckten Aufsätze stellen eine Auswahl der auf dem Workshop gehaltenen Vorträge dar, deren Thematik sich im Rahmen der indogermanischen Sprachen bewegt. Eingeladen waren Vertreter aus sprachwissenschaftlichen Disziplinen und Philologien (Afrikanistik, Ägyptologie, Allgemeine Sprachwissenschaft, Anatolistik, Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, Romanistik, Slavistik, Tocharologie, usf.), die sich sowohl mit Phänomenen des Sprachkontakts im Allgemeinen als auch mit den Fragen und Problemen, die Übersetzungstexte aufwerfen, befassen. Die Bandbreite der behandelten Sprachen und Themen macht deutlich, wie vielfältig Sprach- und Kulturkontakte zu allen Zeiten und allerorten waren und sind : Das räumliche Spektrum reichte von Island (Le Feuvre) über Italien (Dupraz), Ägypten (Labrique), und Anatolien (Melchert, Dardano, García Trabazo) bis ins westliche China (Pinault), das zeitliche vom 2. Jt. v. Chr. bis in die Zeit der ersten rumänischen Texte aus dem 16. Jh. (Becker). Dabei wurden sowohl Fragen der Gesamtbeurteilung eines Kontakts behandelt („Wie stark, wie lange, in welche Richtung ?“, usf., vgl. den Beitrag von I. Hajnal zum anatolisch-griechischen Sprachkontakt) als auch einzelsprachlich unterschiedliche Strategien im Umgang mit fremdsprachlichen Strukturen (Casaretto, Kölligan, Rieken), die von mehreren Beitragenden anhand konkreter Texte (vgl. etwa den Beitrag von H. C. Melchert) und einzelnen sprachlichen Elementen, insbesondere Phrasemen und Formeln diskutiert wurden (Martzlof, Vine). Auch der nicht-appellativische Wortschatz wurde in den Blick genommen – hierfür stehen die Beiträge zur Onomastik von García Trabazo (Anatolien) und Poccetti (Italien). Aus editionstechnischen Gründen erscheinen die Akten des Kolloquiums in zwei Bänden. Das Wort- und Sachregister zu beiden Bänden beindet sich am Ende des zweiten Bandes. Wir danken Frau Lena Wolberg für ihre tatkräftige und engagierte Unterstützung bei der Organisation des Workshops und bei der Vorbereitung der Bände sowie Prof. P. Poccetti (Rom) für die Aufnahme der Bände in die Reihe Linguarum Varietas herzlich. José Luis García Ramón Daniel Kölligan DIE GRIECHISCH-ANATOLISCHEN SPRACHKONTAKTE ZUR BRONZEZEIT – SPRACHBUND ODER LOSER SPRACHKONTAKT ? Ivo Hajnal Universität Innsbruck 1. Einführung D ass die mykenischen Griechen in Kontakt mit Sprechern anatolischer Idiome gestanden haben, ist heute unbestritten. Über die Intensität und die Folgen dieses Sprachkontakts sind die Ansichten geteilt : • Eine Mehrzahl der Fachbeiträge geht von engen Sprachkontakten beziehungsweise gar von einem griechisch-anatolischen Sprachbund aus, der an der Südwestküste des bronzezeitlichen Kleinasiens bestanden haben soll. Zur Illustration sei auf die jüngste Äusserung von Calvert Watkins verwiesen : 1 “Areal, that is geographical difusion presupposes contact, and it is appropriate to look irst at areas where we know independently that cultural contacts took place from an early period : Hellas and Anatolia in the second millennium BC which were contiguous over the long western coast of Asia Minor. Scholars have argued since the last decade of the last century for Western Anatolia as a Sprachbund or linguistic area on the basis of shared grammatical features between Anatolian and Greek …” • Eine Minderzahl der Fachbeiträge bestreitet zwar nicht die Existenz von Sprachkontakten, bewertet diese jedoch als relativ lose und keineswegs als so intensiv, dass die Annahme eines ‘Sprachbunds’ gerechtfertigt sei. 2 Im Folgenden will ich zugunsten der zweiten Annahme plädieren : Demnach lassen sich – gerade im Griechischen – Kontakterscheinungen nachweisen. Doch ist Kontakt zwischen mykenischen Griechen und bronzezeitlichen Anatoliern keineswegs so stark gewesen, um Sprachbund-Phänomene auszulösen. Zu diesem Zweck will ich die folgenden Fragen beantworten : 1. Auf welche Intensität des griechisch-anatolischen Sprachkontakts lassen die archäologische, historische und onomastische Evidenz a priori schliessen ? (s. 2.) 2. Welche Szenarien sind grundsätzlich unter Sprachkontakt möglich, und auf welchen Bedingungen beruhen sie ? (s. 3.) 3. Welches der unter Sprachkontakt möglichen Szenarien wird der sprachwissenschaftlichen Analyse der griechisch-anatolischen Kontakterscheinungen am ehesten gerecht ? (s. 4. bis 6.) 1 Watkins (2007 : 308). 2 S. hierzu die implizit vorsichtige Bewertung bei Yakubovich (2008a : 176f., 2008b : 127f. 2010 : 140f.) sowie bei Hajnal (im Druck). 106 ivo hajnal 2. Archäologische, historische und onomastische Evidenz für griechisch-anatolische Kontakte In den Epochen LH IIIA bis LH IIIC (ca. 1450 bis 1100 v. Chr.) ist in erster Linie in Milet und davon ausgehend in einer Zone bis nach Bodrum/Halikarnass eine intensive mykenische Siedlungstätigkeit nachweisbar. Damit lässt sich eine erste potentielle Kontaktzone archäologisch in den Küstengebieten der antiken Landschaft Karien verorten. 1 Aus historischer Sicht ist Milet (Millawa(n)da) in den hethitischen Archivtexten als Lokalität bekannt, die Beziehungen zu Ah¢h¢ijawa 2 unterhält und – etwa in der Angelegenheit des ‘Rebellen’ Pijamaradu – in Opposition zum hethitischen Großreich steht. 3 Allerdings bleibt diese Kontaktzone räumlich in engen Grenzen : Bereits nördlich der Halbinsel von Mykale/Samsun Dag˘ ist die mykenische Präsenz deutlich geringer und scheint auf Handelskontakte bzw. Händlerkolonien beschränkt. 4 Wie intensiv sich der Kontakt gestaltet, bleibt ebenso im Dunkeln. Selbst wenn das antike Karien mit der in den hethitischen Keilschriftarchiven genannten Landschaft Karkiša/Karkija identisch sein sollte, 5 liesse sich wenig Verbindliches sagen. Denn die Angaben der historischen Quellen zu Karkiša/Karkija bleiben fragmentarisch. Angesichts der archäologischen Evidenz überrascht es wenig, dass auf beiden Seiten konkrete Spuren gegenseitiger Kenntnis in der Onomastik nachzuweisen sind : • Die mykenischen Tafeln enthalten eine Reihe von Ethnika aus Kleinasien und der Südostägäis, luwisches Namensgut wie pi-ja-ma-so (vgl. luw. pija- ‘geben’) oder i-mi-ri-jo (KN Db 1186) /Imrios/ (vgl. graeco-lyk. Imbra~ et al.). Ferner nennen sie in Gestalt der po-ti-ni-ja a-si-wi-ja /potnia Aswia¯/ (PY Fr 1206) eine Muttergottheit kleinasiatischer Herkunft. All dies weist auf einen recht intensiven personellen und kulturellen Austausch. • In den hethitischen Archiven sind die gesicherten Spuren griechischen Namensguts seltener : Verwiesen sei immerhin auf den Regenten von Wiluša namens Alakšanduš, hinter dem eine Mehrzahl der Fachbeiträge das griechische Anthroponym ∆Alevxandro~ erkennt. Eine kulturelle Übernahme kann ferner im Theonym []x-ap-pa-li-u-na-aš vorliegen, sofern dieses aus griech. /Apeljo¯n/ 1 Da sich das antike Karische als der luwischen Sprachfamilie angehörig erweist, ist präziser von einem mykenisch-luwischen Sprachkontakt auszugehen. S. für eine ähnliche Vermutung Watkins (2007 : 308) : “The Anatolian dialects of the western coastal area are mostly « Luvoid », that is varieties of Luvian or similar Anatolian dialects, as appears from the onomastic stock of historical igures of the region like Madduwattas and Piyamaradus, the Luvian ainity of Lycian, and other evidence. For these reasons I will look irst to Luvian or Luvoid Anatolia for comparanda, supplementing that with central Anatolian Hittite where necessary.” 2 Im Folgenden wird auf die ‘Ah¢h¢ijawa-Frage’ nicht näher eingegangen. Vgl. hierzu jedoch ausführlich Hajnal (2011). 3 S. etwa die Übersicht bei Heinhold-Krahmer (2007). 4 Vgl. zuletzt die Übersicht bei Niemeier (2007 : 51f.). 5 Diskussion bei Hawkins (1998 : 29). die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 107 (so u.a. in myk. [a]-pe-ro2-ne KN E 842.3, kypr. to-i-a-pe-i-lo-ni ICS 215, b 4) bezogen ist. 1 Wie in Fällen von Namensübernahmen üblich, lässt sich zudem eine Systematik bei der Anpassung feststellen : So werden griechische Anthroponyme auf /-os/ durch heth. /-us/ repräsentiert, weil das hethitische Phonemsystem nicht über primäres /o/ verfügt : vgl. etwa heth. mMu-uk-šú-uš /Muksus/ (Madduwatta-Text KUB XIV.1 rev. 75 ; CTH 147) für griech. /Mokwso-/ ‘Movyo~’. Hingegen enden dieselben Namen im Luwischen auf /-as/, was altes */-os/ repräsentieren könnte, das sich im Luwischen nach Ausweis des Lykischen gehalten hat : vgl. etwa hluw. mu-ka-sa/Muksa-/ ; ferner hluw. wa/i-ra/i-i-ka-sá /Warikas/ (Çineköy) mit luwischer Aphärese 2 neben der ofenkundig nicht epichorischen Variante à-wa/i+ra/i-ku-sa /Awarikus/ (Karatepe). Analoge Spuren der Anpassung zeigen sich bei Toponymen : Die hethitische Benennung von Milet kennt die Varianten mi-il-la-wa-an-da versus mi-la-wa-ta. Das Suix geht auf ererbtes */-went- ≈ -wnt-/ zurück, das im Anatolischen in bei˚ Heth. /-wad-/ hingegen lässt sich als den Ablautstufen zu */-wand-/ führen muss. Fortsetzung des griechischen */-wet-/ erklären, das dort als analogische, nach der Vollstufe */-wént-/ gebildete Ersatzform des ursprünglichen */-wnt-/ dient : vgl. ˚ hom. mhtiveta (Zeuv~) < */-wet-a¯-/ statt */-wat-a¯-/ <*/-wnt-/. ˚ All dieser gegenseitigen sprachlichen Adaptionen zum Trotz lassen sich zwei Tendenzen feststellen : • Die Spuren anatolischer Onomastik sind auf den mykenischen Quellen zahlreicher als umgekehrt die Spuren griechischer Onomastik auf hethitisch-anatolischen Quellen. • Die auf mykenischen Quellen belegten Spuren anatolischer Onomastik weisen zu einem beträchtlichen Teil auf die oben genannte, archäologisch manifeste Kontaktzone um Milet. Umgekehrt scheinen die Spuren griechischer Onomastik auf hethitisch-anatolischen Quellen bestenfalls indirekt in einem Kontext zur betrefenden Kontaktzone zu stehen. Vielmehr sind sie im Kontext von Wiluša anzusiedeln. Diese Tendenzen können auf den Zufall der Überlieferung oder die unterschiedliche Art der Überlieferung zurückzuführen sein. Sie lassen sich aber auch dergestalt interpretieren, dass der griechisch-anatolische Spracheinluss einseitig (also von Ost nach West) und wenig nachhaltig erfolgt ist – zumal die ca. 350 Jahre währende Zone, an der ein intensiverer Kontakt möglich gewesen wäre, lächenmäßig überschaubar ist. Diese erste Bestandsaufnahme führt zu folgendem, provisorischem Fazit : Die archäologische und historische Evidenz legt das Szenario eines Sprachbunds zumindest nicht nahe. 3. Theoretische Grundlagen des Sprachkontakts Sprachkontakt manifestiert sich in Entlehnungen unterschiedlicher Intensität – wobei der Begrif “Entlehnung” in den folgenden Ausführungen in einem weitge1 Diskussion bei Beekes (2003). 2 S. zur Aphärese Melchert (1994 : 276). 108 ivo hajnal fassten Sinn verwendet wird, also von der lexikalischen Entlehnung bis zur strukturellen Entlehnung und damit zu kontaktbedingtem Wandel ganzer sprachlicher Kategorien reicht. 1 Die aktuelle Sprachkontaktforschung rechnet mit festen Bedingungen sowie Szenarien, die Entlehnung ermöglichen beziehungsweise prägen. Um den linguistischen Befund, der – abgesehen von der in 2. beschriebenen Onomastik – als Beleg für griechisch-anatolischen Sprachkontakt dient, korrekt zu beurteilen, ist vorweg die Kenntnis dieser Bedingungen und Szenarien erforderlich. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen : 1) Entlehnungen erfolgen immer von einer Gebersprache (GS) zu einer Nehmersprache (NS). Sie lassen sich dabei wie folgt typologisieren : 2 • Die treibende Kraft hinter den Entlehnungen sind die Sprecher der NS. Beispiel : Mykener übernehmen in ihre Erstsprache Griechisch anatolische Lehnwörter. • Die treibende Kraft hinter den Entlehnungen sind die Sprecher der GS. Beispiel : Anatolier übernehmen in ihrer Zweitsprache Griechisch syntaktische Konstruktionen aus ihrer anatolischen Erstsprache. In stark bilingualen Situationen besteht Komplementarität : Ein- und dieselbe Sprache kann situationsbedingt als NS wie GS fungieren. 3 So etwa in Fällen, in denen Sprecher sowohl Elemente ihrer Erstsprache auf ihre Zweitsprache wie auch Elemente ihrer Zweitsprache auf ihre Erstsprache übertragen. 2) Sprachkontakt beruht stets auf sozialen Beziehungen. 4 Zwar lassen Entlehnungen keine verbindlichen Rückschlüsse auf die soziolinguistische Situation und damit auf die Intensität des Sprachkontakts zu. 5 Doch gestattet die empirisch festgestellte Praxis die folgende Feststellung : • Lexikalische Entlehnungen sind bereits bei einem losen Kontakt zwischen zwei Sprachgemeinschaften möglich – wobei die treibende Kraft hinter den Entlehnungen in der Regel die Sprecher der NS oder der GS sind. • Hingegen erfordern strukturelle Entlehnungen auf phonologischer, morphologischer oder syntaktischer Ebene einen intensiven Kontakt beziehungsweise eine bilinguale Situation – wobei die treibende Kraft hinter den Entlehnungen in der Regel die Sprecher der GS sind. 3) Folglich lassen sich die folgenden beiden, empirisch reichlich belegten Entlehnungsszenarien annehmen : 6 (i) Szenario von losem Kontakt lexikalische Lexikon Entlehnung geringe bis zahlreiche Entlehnungen (ii) Szenario von intensivem Kontakt vereinzelte Entlehnungen 1 S. die Typologie von kontaktbedingtem Wandel bei Aikhenvald/Dixon (2001b : 16f.). Eine Übersicht zur Vielfalt von Lehnbeziehungen und ihrer Ursachen vermitteln ferner Curnow (2001 : 417f.) sowie Thomason (2001 : 59f.). 2 So zuletzt nach Winford (2005). 3 Winford (2005 : 382). 4 In diesem Sinne Thomason (2008). 5 Diskussion bei Heine/Kuteva (2008 : 76f.). 6 So in Anlehnung an Thomason/Kaufman (1988 : 37f. und 65f.). die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 109 (i) Szenario von losem Kontakt Phonologie strukturelle Entlehnung Morphologie Syntax keine Interferenzen (allenfalls bei zahlreichen bilingualen Sprechern) allenfalls Lehnmorphologie (über Entlehnungen im Wortschatz) keine Interferenzen (ii) Szenario von intensivem Kontakt zahlreiche Interferenzen i.d.R. wenig Lehnmorphologie zahlreiche Interferenzen 4) Die Möglichkeiten von struktureller Entlehnung beziehungsweise Sprachwandel durch Sprachkontakt sind durch die Struktur der Nehmersprache (NS) beschränkt. 1 In diesem Sinne durchläuft die NS unter Sprachkontakt keine morphologischen oder syntaktischen Wandel, die strukturwidrig sind. 5) Strukturelle Entlehnung beziehungsweise Sprachwandel durch Sprachkontakt folgt ferner den bekannten Pfaden der Grammatikalisierung. 2 Anders gesagt : Führt Sprachkontakt zu strukturellen Entlehnungen, dann folgen diese immer der Richtung von Sprachwandel, der nicht durch Sprachkontakt ausgelöst ist. Um diese Einschränkung anhand eines konkreten Beispiels zu illustrieren : Im modernen Griechischen geht das Futur auf ein Verb des ‘Wollens’ zurück. Dasselbe gilt für die Mehrzahl der Balkansprachen wie das Toskisch-Albanische, Rumänische, Mazedonische, Bulgarische und Serbo-Kroatische. Die Annahme eines Sprachbund-Phänomens liegt nahe und ist im Übrigen unproblematisch. Denn der Grammatikalisierungspfad von ‘wollen’ zu einem Futurausdruck ist trivial 3 und wäre im Griechischen unter Umständen auch ohne Einluss der umliegenden Sprachen erfolgt. Abgesehen davon ist jeder Schritt der Grammatikalisierung auch ohne Sprachkontakt möglich und plausibel. Die einzelnen Schritte lauten : 4 i) Fortlaufender Ersatz des Ininitivs : /thélo¯ gráphein/ → hellenist. /thélo¯ hina grápho¯/ ‘ich will schreiben’. ii) Semantische Neuordnung : ‘ich will schreiben’ > ‘ich werde schreiben’. iii) Verlust von /-n #/ : 1.Pers.Sg. /thélo¯ gráphei/, 3.Pers.Sg. /thélei gráphei/. iv) Reanalyse (nach 3.Pers.Sg.) : mittelgriech. /thélo¯ grápho¯/. v) Synkretismus mit Nebensatz-Konstruktion (gemäß i) : /thélo¯ (hina) grápho¯/. vi) Beseitigung der redundanten Angabe der Person : /qéli (na) gráfo/. vii) Phonologische Reduktion, Deakzentuierung : /qa gráfo/. Damit sei nicht gesagt, dass der Wandel ohne Einluss der umgebenden Sprachen zustande gekommen wäre. In den Worten von Brian D. Joseph (am Beispiel des Verlusts des Ininitivs in den Balkansprachen) : “That is, purely language internal 1 Silva-Corvalán (2008, besonders S. 221 : “The studies discussed strongly support my proposal that transfer is constrained by the structure of the languages involved, and contradicts the claim that « anything goes » …”). 2 S. hierzu die Überlegungen von Heine/Kuteva (2008). 3 Heine/Kuteva (2005 : 103f.) illustrieren dieses ‘devolitive’ Schema bei der Entstehung eines Futurs anhand zahlreicher Beispiele. 4 S. für die folgende Darstellung Joseph (2001). 110 ivo hajnal explanations for Sprachbund phenomena have a hard time accounting for any instances of convergence among the languages in question ; even if languageinternal accounts can be developed for the loss of the ininitive in the Balkan languages, there is no explanation for why all these languages should happen to coincide on this feature to the considerable degree they do – it becomes totally accidental that these languages which are clustered together geographically should independently have all innovated in the same way. On the other hand, a purely language-contact explanation for such phenomena tends to ignore real facts internal to each language which could, or perhaps must, have made some contribution to the ultimate development of the feature.” 1 Durch griechisch-anatolischen Sprachkontakt bedingte Entlehnungen müssen diesen fünf Bedingungen bzw. Szenarien entsprechen. 4. Lexikalische Entlehnungen Vorweg sei auf Folgendes verwiesen : In der Fachliteratur werden lexikalische – wie auch strukturelle Entlehnungen (s. 5.) – immer nur für die griechische Sprache angenommen. Dies entspricht dem in 2. gewonnenen Eindruck, wonach die Spuren anatolischer Onomastik auf mykenischen Tafeln deutlich umfangreicher sind als umgekehrt die Spuren mykenischer Onomastik in anatolisch-hethitischen Quellen. Damit ein griechisches Lexem als Entlehnung aus den anatolischen Sprachen identiiziert werden kann, muss es zumindest drei der folgenden Bedingungen erfüllen : 2 1) Seine phonologische Gestalt entspricht präzise derjenigen der anatolischen Gebersprache – beziehungsweise lässt sich bei Divergenzen plausibel durch die Wiedergabe von Fremdphonemen im Griechischen rechtfertigen. 2) Seine Wortbedeutung entspricht derjenigen der anatolischen Gebersprache oder lässt sich plausibel von dieser herleiten. 3) Als Quelle bietet sich keine andere Gebersprache an. 4) In ihm inden sich Spuren von Phonologie oder Morphologie der anatolischen Gebersprache. Diese Bedingungen reduzieren die Zahl der griechischen Lexeme, die als Entlehnungen aus den anatolischen Sprachen in Frage kommen, erheblich. Von den als anatolische Entlehnungen ins Spiel gebrachten griechischen Lexemen bestehen einzig die folgenden die Prüfung : • devpa~/myk. di-pa ‘Becher ; Gefäß’, evtl. aus hluw. (Caelum)ti-pa-sº ‘Himmel’. 3 • kuvmbalon ‘Zymbale’, evtl. aus heth. GIŠh¢uh¢upal ‘(ein hölzernes Schlaginstrument)’. 4 1 Joseph (1982 : 2). 2 S. Hajnal (im Druck). 3 Zur Semantik sei ergänzt, dass das hieroglyphenluwische Ideogramm Caelum eine Schale abbildet. Zudem wird das hethitische Äquivalent ne¯piš ‘Himmel’ gelegentlich auch in der Bedeutung ‘Becher’ verwendet. S. Neu (1999) sowie für weitergehende Überlegungen Watkins (2007 : 319f.). 4 Griech. /ºmbº/ dient hier nach Hajnal (1993) – wie im folgenden kuvmbaco~ – als (vor)mykenische Wiedergabe von fremdem /ºbº/. die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 111 • kuvpellon ‘Becher’, evtl. aus der heth. Gefäßbezeichnung dugkukupalla- oder zu kluw. h¢upalla/i- (und heth. (Uzu) h¢upallaš -) ‘Schädel’. 1 • kuvmbaco~ ‘Helmkrone’, evtl. aus heth. kupah¢i- (aus hurrit. ku(-ú)-wa4-h¢i). • movlubdo~/myk. mo-ri-wo-do ‘Blei’, evtl. aus anatol. (Adj.) */morkw-io-/ ‘dunkel’ wie im lydischen Theonym mariwda(s´)-k ‘die Dunklen’. 2 • toluvph ‘Wollknäuel’, evtl. aus heth. taluppa- (bzw. kluw. taluppa/i-) ‘Klumpen’. 3 Im Rahmen dieser Zusammenstellung fällt zweierlei auf : • Erstens ist die Anzahl anatolischer Entlehnungen im griechischen Wortschatz sehr gering. Zum Vergleich sei darauf verwiesen, dass für weniger als die Hälfte des altgriechischen Wortschatzes eine indogermanische Etymologie besteht. 4 Selbst wenn die oben genannte Liste erheblich wachsen würde, bliebe der Anteil anatolischen Wortguts im griechischen Lexikon gering. • Zweitens sind die gesicherten Entlehnungen nicht auf anatolisches Herkunftsgebiet beschränkt. Sie stammen vielmehr ebenso aus der hethitischen Palatialsphäre wie aus dem luwischen und lydischen Sprachgebiet. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie Innovationen und Kulturgüter bezeichnen. 5. Strukturelle Entlehnungen Neben den lexikalischen Entlehnungen sind in der Fachliteratur bislang eine Reihe von morphologischen und syntaktischen Zügen des Griechischen als strukturelle Entlehnungen aus dem anatolischen Sprachraum zur Diskussion gestellt worden. 5 In allen bislang bekannten Fällen scheitert der endgültige Nachweis anatolischer Provenienz spätestens dann, wenn die linguistischen Verhältnisse korrekt berücksichtigt werden. Um diese Behauptung an zwei konkreten Thesen zu veranschaulichen : These 1) : Der archaische Gebrauch der Adjektive auf -io- im griechischen Dialekt von Lesbos soll auf die Inferenz der umgebenden anatolischen Sprachen zurückgehen. 6 Kommentar : Tatsächlich setzen gerade die luwischen Sprachen das ererbte Sufixes *-io- reichhaltig fort. 7 Doch hinter den io-Adjektiven auf Lesbos ein Sprachkontaktphänomen zu erkennen, wird dann wenig plausibel, wenn den genauen Verhältnissen im Griechischen wie in den anatolischen Sprachen Rechnung getragen wird : • io-Adjektive, welche die Zugehörigkeit von Gegenständen benennen (vgl. thessal. Anfioneia a stala toufronet¯ o~), sind im Lesbischen nicht belegt, 8 in den anatolischen Sprachen jedoch einschlägige Praxis. Diese Diskrepanz ist schwer 1 Vgl. zur semantischen Entwicklung lat. testa ‘Scherbe, Gefäß’ vs. frz. tête ‘Kopf ’. 2 Die phonologische Entwicklung */morkw-io-/ > */marwido-/ > */mariwdo-/ mit Entwicklung von */ºVjVº/ > /ºVdVº/ erweist movlubdo~/mo-ri-wo-do als Lehnwort aus dem Lydischen. S. Melchert (2008). 3 Melchert (1998). 4 Morpurgo Davies (1986 : 105). 5 Vollständige Übersicht bei Hajnal (im Druck). 6 So Watkins (2001 : 58). 7 Melchert (1990). 8 Hodot (1990 : 228). 112 ivo hajnal zu erklären, wenn sich das Lesbische von den anatolischen Sprachen hätte beeinlussen lassen. • Seit mykenischer Zeit bestehen starke Interferenzen zwischen den Zugehörigkeitsadjektiven auf /-io-/ und den Stofadjektiven auf /-ejo-/. 1 Wie das Mykenische (vgl. myk. wi-ri-ni-jo /wrı¯n-io-/ neben wi-ri-ne-jo /wrı¯n-ejo-/ ‘aus Leder’) belegt auch das Lesbische Stofadjektive auf /-io-/ statt */-e(j)o-/ : vgl. lesb. crusio~, calkio~ (statt *cruseo~, *calkeo~). 2 Dies spricht dafür, den lesbischen Gebrauch von /-io-/ grundsätzlich – also auch bei Patronymika – als unabhängigen Archaismus zu bewerten. • In den luwischen Sprachen erscheint das Zugehörigkeitsadjektiv auf */-io-/ in ‘i-mutierter’ Form als */-ijo/ı¯-/. Sein urluwisches Paradigma lautet folglich : Nom.Sg. comm. */-ı¯s/ < */-ijis/, Akk.Sg. comm. */-ı¯n/ < */-ijin/, Nom./Akk. Sg. ntr. */-ijon/ < */-ion/ usw. 3 Sollte ein Einluss der anatolischen Sprachen auf das Griechische bestehen, wäre anzunehmen, dass sich dieser Stammwechsel im Griechischen bemerkbar macht, zumal das Griechische über Stämme auf */-ı¯s/ verfügt. Dies ist nicht der Fall – bzw. erst in hellenistischer Zeit. Denn der erwartete Einluss ist ab der späthellenistischen Periode im Griechischen Anatoliens nachweisbar, wo sich die Grenze zwischen den Nominalstämmen auf -io und -i~ aufweicht : vgl. etwa das Anthroponym Tarasi~ versus Tarasio~ (Pisidien, Lykien usw.). 4 In diesem Sinne bestehen keinerlei bronzezeitlichen Inferenzen zwischen lesbischem Dialekt und anatolischen Sprachen – was im Übrigen auch aus archäologischer und historischer Sicht unplausibel wäre : Die äolische Wanderung ist im Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit anzusetzen. 5 Zuvor ist Lesbos Teil der hethitischen Einlusssphäre 6 bzw. im Spannungsfeld zwischen Mykenern und hethitischem Großreich. 7 Von einer festen griechischen Präsenz in Lesbos ist zur Bronzezeit hingegen nicht auszugehen. These 2) : Die homerische Partikel -tar wird in vielen Editionen als t’a[r verkannt. 8 Sie soll als bronzezeitlicher Bestandteil der homerischen Sprache in ihrer Gebrauchsweise der luwischen Partikel /-tar/ entsprechen und von dieser beeinlusst sein. 9 Kommentar : Tatsächlich bestehen in den Gebrauchsweisen von hom. -tar und luw. /-tar/ Parallelen : Das Wortstellungsmuster */# Verb + -tar/ indet sich bei Homer (z.B. Hom., Il., L 254 rJivghsevn tar <t’a[r’> e[peita a[nax ajndrw`n ∆Agamevmnwn) wie im Keilschriftluwischen (vgl. kluw. KUB XXXV 43 II 36 DTarh¢unza mammanna-tar ‘Tarh¢unt, sei gewogen’). Allerdings ist die Partikel /-tar/ in beiden Sprachen nur schwer fassbar : Kluw. -tar entspricht funktional der hethitischen Satzpartikel -šan und besitzt eine lokativische Nuance. 10 Da sowohl heth. 1 4 6 7 9 10 Überblick bei Hajnal (1994). 2 Hodot (1990 : 233f.). 3 Melchert (1990). Brixhe (1987 : 67). 5 Rose (2008). S. auch das bei Mason (2008) zusammengetragene Material. S. die Interpretation von Singer (2008). 8 Zur Textgeschichte ausführlich Katz (2007). So zuletzt Watkins (1997 : 618). Zusammenfassung bei Yakubovich (2008a : 177f. sowie 2010 : 141f.). die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 113 -šan wie kluw. -tar in der satzeinleitenden Partikelkette an letzter Stelle stehen, scheinen sie adverbiellen Ursprungs und modiizieren das Verb in Aktionsart bzw. Aspekt. Die homerische Partikel -tar tritt hingegen regelmäßig in Zweitstellung auf. Diese Zweitstellung ist bei Homer für Diskurspartikeln die Regel. 1 Daher liegt es nahe, in -tar eine Diskurspartikel zu erkennen. Dann ist hom. -tar aber kaum mit kluw. -tar zu verknüpfen, das – wie gesagt – jeweils die Letztstellung in der Partikelkette einnimmt. Eine etymologische sowie areallinguistische Verbindung lässt sich vorerst also nicht belegen. 2 Eine genaue linguistische Analyse zeigt folglich, dass die beiden Thesen abzulehnen sind – zumal sie auch nicht den in 3. formulierten Bedingungen bzw. Szenarien entsprechen : Da Sprachkontakt den Pfaden der Grammatikalisierung folgt, kann eine Gebersprache (GS) nicht Strukturmerkmale der Nehmersprache (NS) beeinlussen, soweit diese weiter entwickelt sind. Genau dies ist jedoch in den beiden Beispielen der Fall : • Zu These 1) : Im Lesbischen sind io-Adjektive den Patronymika vorbehalten und damit im Gebrauch bereits weiter formalisiert als ihre anatolischen Entsprechungen, die noch als allgemeine Zugehörigkeitsadjektive dienen. Wie oben hätte eine strukturelle Entlehnung damit bestenfalls vom Griechischen in die anatolischen Sprachen wirken können. • Zu These 2) : Als enklitische Diskurspartikel und damit als Funktionswort ist hom. -tar weiter grammatikalisiert als das luwische -tar, das ofenkundig lokale, semantisch zuordbare Funktionen einnimmt. 3 Ein strukturelle Entlehnung hätte bestenfalls vom Griechischen ins Luwische wirken und dort die Entwicklung von /-tar/ beschleunigen können. Die Annahme struktureller Entlehnungen im Griechischen ist bis auf Weiteres demnach abzulehnen. 6. Zusammenfassung und Fazit Der bronzezeitliche Befund spricht eine klare Sprache und lässt sich – in Anlehnung an 3. – wie folgt zusammenfassen : • Ohne Zweifel bestehen in der Bronzezeit Sprachkontakte zwischen mykenischem Griechisch und anatolischen Sprachen. Ihre Wirkung verläuft allerdings nicht reziprok, sondern von Ost nach West bzw. von Vorderasien in die Ägäis und nach Griechenland. • Die gesicherten Entlehnungen beschränken sich auf das griechische Lexikon und sind in ihrer Anzahl überschaubar. Strukturelle Entlehnungen im Griechischen aus den anatolischen Sprachen liegen keine vor. 1 Zur Stellung der Partikeln bei Homer zuletzt Hajnal (2004). 2 Katz (2007) weist zudem darauf hin, dass kluw. -tar stets mit Lenisschreibung auftritt – sodass u.U. eine Vorform mit anlautendem */# dº/, evtl. */-d(h)r/, vorliegt. In diesem Fall fällt eine Verknüpfung ˚ mit hom. -tar ohnehin außer Betracht. 3 Vgl. für den Grammatikalisierungspfad von Ortsadverb zu Diskurspartikel die Entwicklung von dt. denn ‘eigentlich’ in Aussagen wie Wie spät ist es denn ? Zugrunde liegt altes danne/thanne als Ortsbzw. späteres Zeitadverb. S. hierzu Wegener (2002). 114 ivo hajnal • Damit ist der Sprachkontakt von relativ geringer Intensität und wird von den Griechen selbst getragen. Sie sind es, die eigeninitiativ Begrife für Innovationen und Kulturgüter aus den ihnen bekannten anatolischen Sprachen in ihr Lexikon aufnehmen. • Strukturelle Änderungen im Griechischen fehlen – und damit auch jegliche Hinweise, die auf eine bilinguale Situation deuten könnten. Das Fazit deckt sich somit mit dem zu Beginn präsentierten archäologischen und historischen Befund, wonach die griechisch-anatolische Kontaktzone begrenzt ist. Konkret fehlt in der Bronzezeit wohl die ‘kritische Masse’ an großen, urbanen Zentren, in denen sich sprachliche Konvergenz zunächst einstellt, um in der Folge auf die ländlichen Regionen überzugreifen. 1 Erschwerend tritt hinzu, dass bislang Kontakte nur auf diplomatischer und damit elitärer Ebene nachgewiesen sind – wobei bezweifelt werden muss, dass die beiden Regentenhäuser jeweils die Sprache der Gegenseite beherrscht haben. Damit sind die Voraussetzungen für eine lebendige Durchmischung von Sprechergemeinschaften und einen gewissen Grad an Bilingualität auf allen sozialen Ebenen der Gesellschaft nicht gegeben – weshalb unser Ergebnis wenig überrascht. Anders als in der Bronzezeit präsentiert sich die Situation im ersten vorchristlichen Jahrtausend : Hier treibt der Einluss der anatolischen Sprachen die Grammatikalisierung im Griechischen voran, was den Weg für strukturelle Änderungen ebnet. So kennt der Dialekt Pamphyliens beispielsweise einen Rhotazismus /ºVdVº/ > /ºVðVº/ > /ºVrº/ (z.B. in pamph. Epitimirau < *Epitimidau), 2 wie er für die luwischen Sprachen bereits im ausgehenden zweiten bzw. angehenden ersten Jahrtausend bezeugt ist. 3 Damit lässt sich die im Titel gestellte Ausgangsfrage eindeutig beantworten : In der Bronzezeit kann von einem griechisch-anatolischen Sprachbund nicht die Rede sein. Vielmehr präsentiert sich das Verhältnis von Griechisch und den anatolischen Sprachen als eher distanziert. Literatur Aikhenvald, A.Y./Dixon, R.M.W. (eds.) 2001a : Areal Difusion and Genetic Inheritance. Problems in Comparative Linguistics. Oxford-New York. Aikhenvald, A.Y./Dixon, R.M.W. (eds.) 2001b : “Introduction”. In Aikhenvald/Dixon 2001a, 1-26. Beekes, R.S.P. 2003 : “The origin of Apollo”. JANER 3, 1-21. Brixhe, C. 1976 : Le dialecte grec de Pamphylie. Documents et grammaire. Paris. — 1987 : Essai sur le grec anatolien au début de notre ère. Nancy. 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