LIN GVARVM VA R IETA S
An International, Yearly and Peer-Reviewed Journal.
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*
Diretta da
Paolo Poccetti (Università di Roma ‘Tor Vergata’)
Comitato scientiico
Luciano Agostiniani (Università di Perugia), Philip Baldi (Penn State University), Frédérique Biville (Université Lyon 2), Pier Luigi Cuzzolin (Università di Bergamo), Patrizia
de Bernardo (Universidad del País Vasco, Vitoria-Gasteiz), Michèle Fruyt (Paris IV,
Sorbonne), José Luis Garcia Ramon (Universität Köln), Daniel Kölligan (Universität
Köln), Daniele Maras (‘Sapienza’, Università di Roma), Torsten Meissner (Pembroke
College, Cambridge), Anna Orlandini (Université de Toulouse, Le Mirail), Diego Poli
(Università di Macerata), Rex Wallace (University of Massachussets),
Michael Weiss (Cornell University)
LINGVARVM
VARIETAS
An International Journal
3 · 2014
PISA · ROMA
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MMXIV
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i sbn 9 78 -8 8 -6227- 726- 6
INHALTSVERZEICHNIS
strategies of translation:
language contact and poetic language
akten des workshops
köln, 17.-18. dezember 2010
herausgegeben von
josé luis garcía ramón · daniel kölligan
unter mitwirkung von lena wolberg
erster teil
11
Vorwort
Martin Becker, Anfänge der rumänischen Schriftlichkeit und Übersetzungsstrategien im Tetraevanghelul in der Kronstädter Edition des Diakon Coresi
Marina Benedetti, “Diathesis” / “voice” : loan words and loan translations
in the grammatical metalanguage
Antje Casaretto, Zur Sprachkontaktsituation im Gotischen : die Verbalkomposita
Paola Dardano, Interferenzerscheinungen in den hethitischen Texten : Der Einluss des Akkadischen
Emmanuel Dupraz, Zur italischen Rechtssprache : über einige juristische Formeln im Umbrischen und im Lateinischen
José Virgilio García Trabazo, Ererbte dichterische Themen in hethitischen
und luwischen Personennamen
Ivo Hajnal, Die griechisch-anatolischen Sprachkontakte zur Bronzezeit – Sprachbund oder loser Sprachkontakt ?
Daniel Kölligan, Graeca in Armenia : Anmerkungen zur hownaban dprocc
Françoise Labrique, Herodots Blick auf den Phoinix
105
117
131
Abstracts
155
13
35
43
55
73
95
STRATEGIES OF TRANSLATION :
LANGUAGE CONTACT AND POETIC LANGUAGE
akten des workshops
köln, 17.-18. dezember 2010
herausgegeben von
josé luis garcía ramón · daniel kölligan
unter mitwirkung von lena wolberg
i.
VORWORT
A
m 17. und 18. Dezember 2010 fand am Institut für Linguistik – Abteilung Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität zu Köln ein Workshop mit dem Titel „Strategies of Translation : Language Contact and Poetic Language“ statt. Er stand im Zusammenhang mit einer Reihe von vorbereitenden
Maßnahmen für die Beantragung eines Exzellenz-Clusters „Linguistic Theory in
Action“. Die in diesem Band abgedruckten Aufsätze stellen eine Auswahl der auf
dem Workshop gehaltenen Vorträge dar, deren Thematik sich im Rahmen der
indogermanischen Sprachen bewegt.
Eingeladen waren Vertreter aus sprachwissenschaftlichen Disziplinen und Philologien (Afrikanistik, Ägyptologie, Allgemeine Sprachwissenschaft, Anatolistik,
Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, Romanistik, Slavistik, Tocharologie, usf.), die sich sowohl mit Phänomenen des Sprachkontakts im Allgemeinen
als auch mit den Fragen und Problemen, die Übersetzungstexte aufwerfen, befassen.
Die Bandbreite der behandelten Sprachen und Themen macht deutlich, wie
vielfältig Sprach- und Kulturkontakte zu allen Zeiten und allerorten waren und
sind : Das räumliche Spektrum reichte von Island (Le Feuvre) über Italien (Dupraz), Ägypten (Labrique), und Anatolien (Melchert, Dardano, García Trabazo)
bis ins westliche China (Pinault), das zeitliche vom 2. Jt. v. Chr. bis in die Zeit
der ersten rumänischen Texte aus dem 16. Jh. (Becker). Dabei wurden sowohl
Fragen der Gesamtbeurteilung eines Kontakts behandelt („Wie stark, wie lange,
in welche Richtung ?“, usf., vgl. den Beitrag von I. Hajnal zum anatolisch-griechischen Sprachkontakt) als auch einzelsprachlich unterschiedliche Strategien im
Umgang mit fremdsprachlichen Strukturen (Casaretto, Kölligan, Rieken), die von
mehreren Beitragenden anhand konkreter Texte (vgl. etwa den Beitrag von H.
C. Melchert) und einzelnen sprachlichen Elementen, insbesondere Phrasemen
und Formeln diskutiert wurden (Martzlof, Vine). Auch der nicht-appellativische
Wortschatz wurde in den Blick genommen – hierfür stehen die Beiträge zur Onomastik von García Trabazo (Anatolien) und Poccetti (Italien).
Aus editionstechnischen Gründen erscheinen die Akten des Kolloquiums in
zwei Bänden. Das Wort- und Sachregister zu beiden Bänden beindet sich am
Ende des zweiten Bandes.
Wir danken Frau Lena Wolberg für ihre tatkräftige und engagierte Unterstützung bei der Organisation des Workshops und bei der Vorbereitung der Bände
sowie Prof. P. Poccetti (Rom) für die Aufnahme der Bände in die Reihe Linguarum
Varietas herzlich.
José Luis García Ramón
Daniel Kölligan
DIE GRIECHISCH-ANATOLISCHEN
SPRACHKONTAKTE ZUR BRONZEZEIT –
SPRACHBUND ODER LOSER SPRACHKONTAKT ?
Ivo Hajnal
Universität Innsbruck
1. Einführung
D
ass die mykenischen Griechen in Kontakt mit Sprechern anatolischer Idiome gestanden haben, ist heute unbestritten. Über die Intensität und die
Folgen dieses Sprachkontakts sind die Ansichten geteilt :
• Eine Mehrzahl der Fachbeiträge geht von engen Sprachkontakten beziehungsweise gar von einem griechisch-anatolischen Sprachbund aus, der an der Südwestküste des bronzezeitlichen Kleinasiens bestanden haben soll. Zur Illustration sei auf die jüngste Äusserung von Calvert Watkins verwiesen : 1 “Areal, that
is geographical difusion presupposes contact, and it is appropriate to look irst
at areas where we know independently that cultural contacts took place from
an early period : Hellas and Anatolia in the second millennium BC which were
contiguous over the long western coast of Asia Minor. Scholars have argued
since the last decade of the last century for Western Anatolia as a Sprachbund
or linguistic area on the basis of shared grammatical features between Anatolian and Greek …”
• Eine Minderzahl der Fachbeiträge bestreitet zwar nicht die Existenz von Sprachkontakten, bewertet diese jedoch als relativ lose und keineswegs als so intensiv,
dass die Annahme eines ‘Sprachbunds’ gerechtfertigt sei. 2
Im Folgenden will ich zugunsten der zweiten Annahme plädieren : Demnach
lassen sich – gerade im Griechischen – Kontakterscheinungen nachweisen. Doch
ist Kontakt zwischen mykenischen Griechen und bronzezeitlichen Anatoliern
keineswegs so stark gewesen, um Sprachbund-Phänomene auszulösen.
Zu diesem Zweck will ich die folgenden Fragen beantworten :
1. Auf welche Intensität des griechisch-anatolischen Sprachkontakts lassen die
archäologische, historische und onomastische Evidenz a priori schliessen ? (s. 2.)
2. Welche Szenarien sind grundsätzlich unter Sprachkontakt möglich, und auf
welchen Bedingungen beruhen sie ? (s. 3.)
3. Welches der unter Sprachkontakt möglichen Szenarien wird der sprachwissenschaftlichen Analyse der griechisch-anatolischen Kontakterscheinungen am
ehesten gerecht ? (s. 4. bis 6.)
1 Watkins (2007 : 308).
2 S. hierzu die implizit vorsichtige Bewertung bei Yakubovich (2008a : 176f., 2008b : 127f. 2010 : 140f.)
sowie bei Hajnal (im Druck).
106
ivo hajnal
2. Archäologische, historische und onomastische Evidenz
für griechisch-anatolische Kontakte
In den Epochen LH IIIA bis LH IIIC (ca. 1450 bis 1100 v. Chr.) ist in erster Linie
in Milet und davon ausgehend in einer Zone bis nach Bodrum/Halikarnass eine
intensive mykenische Siedlungstätigkeit nachweisbar. Damit lässt sich eine erste
potentielle Kontaktzone archäologisch in den Küstengebieten der antiken Landschaft Karien verorten. 1 Aus historischer Sicht ist Milet (Millawa(n)da) in den hethitischen Archivtexten als Lokalität bekannt, die Beziehungen zu Ah¢h¢ijawa 2 unterhält und – etwa in der Angelegenheit des ‘Rebellen’ Pijamaradu – in Opposition
zum hethitischen Großreich steht. 3
Allerdings bleibt diese Kontaktzone räumlich in engen Grenzen : Bereits nördlich der Halbinsel von Mykale/Samsun Dag˘ ist die mykenische Präsenz deutlich
geringer und scheint auf Handelskontakte bzw. Händlerkolonien beschränkt. 4
Wie intensiv sich der Kontakt gestaltet, bleibt ebenso im Dunkeln. Selbst wenn
das antike Karien mit der in den hethitischen Keilschriftarchiven genannten Landschaft Karkiša/Karkija identisch sein sollte, 5 liesse sich wenig Verbindliches sagen.
Denn die Angaben der historischen Quellen zu Karkiša/Karkija bleiben fragmentarisch.
Angesichts der archäologischen Evidenz überrascht es wenig, dass auf beiden
Seiten konkrete Spuren gegenseitiger Kenntnis in der Onomastik nachzuweisen
sind :
• Die mykenischen Tafeln enthalten eine Reihe von Ethnika aus Kleinasien und
der Südostägäis, luwisches Namensgut wie pi-ja-ma-so (vgl. luw. pija- ‘geben’)
oder i-mi-ri-jo (KN Db 1186) /Imrios/ (vgl. graeco-lyk. Imbra~ et al.). Ferner
nennen sie in Gestalt der po-ti-ni-ja a-si-wi-ja /potnia Aswia¯/ (PY Fr 1206) eine
Muttergottheit kleinasiatischer Herkunft. All dies weist auf einen recht intensiven personellen und kulturellen Austausch.
• In den hethitischen Archiven sind die gesicherten Spuren griechischen Namensguts seltener : Verwiesen sei immerhin auf den Regenten von Wiluša namens Alakšanduš, hinter dem eine Mehrzahl der Fachbeiträge das griechische
Anthroponym ∆Alevxandro~ erkennt. Eine kulturelle Übernahme kann ferner
im Theonym []x-ap-pa-li-u-na-aš vorliegen, sofern dieses aus griech. /Apeljo¯n/
1 Da sich das antike Karische als der luwischen Sprachfamilie angehörig erweist, ist präziser von
einem mykenisch-luwischen Sprachkontakt auszugehen. S. für eine ähnliche Vermutung Watkins
(2007 : 308) : “The Anatolian dialects of the western coastal area are mostly « Luvoid », that is varieties
of Luvian or similar Anatolian dialects, as appears from the onomastic stock of historical igures of the
region like Madduwattas and Piyamaradus, the Luvian ainity of Lycian, and other evidence. For these
reasons I will look irst to Luvian or Luvoid Anatolia for comparanda, supplementing that with central
Anatolian Hittite where necessary.”
2 Im Folgenden wird auf die ‘Ah¢h¢ijawa-Frage’ nicht näher eingegangen. Vgl. hierzu jedoch ausführlich Hajnal (2011).
3 S. etwa die Übersicht bei Heinhold-Krahmer (2007).
4 Vgl. zuletzt die Übersicht bei Niemeier (2007 : 51f.).
5 Diskussion bei Hawkins (1998 : 29).
die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 107
(so u.a. in myk. [a]-pe-ro2-ne KN E 842.3, kypr. to-i-a-pe-i-lo-ni ICS 215, b 4) bezogen ist. 1
Wie in Fällen von Namensübernahmen üblich, lässt sich zudem eine Systematik bei der Anpassung feststellen : So werden griechische Anthroponyme auf /-os/
durch heth. /-us/ repräsentiert, weil das hethitische Phonemsystem nicht über primäres /o/ verfügt : vgl. etwa heth. mMu-uk-šú-uš /Muksus/ (Madduwatta-Text KUB
XIV.1 rev. 75 ; CTH 147) für griech. /Mokwso-/ ‘Movyo~’. Hingegen enden dieselben
Namen im Luwischen auf /-as/, was altes */-os/ repräsentieren könnte, das sich
im Luwischen nach Ausweis des Lykischen gehalten hat : vgl. etwa hluw. mu-ka-sa/Muksa-/ ; ferner hluw. wa/i-ra/i-i-ka-sá /Warikas/ (Çineköy) mit luwischer Aphärese 2 neben der ofenkundig nicht epichorischen Variante à-wa/i+ra/i-ku-sa
/Awarikus/ (Karatepe).
Analoge Spuren der Anpassung zeigen sich bei Toponymen : Die hethitische
Benennung von Milet kennt die Varianten mi-il-la-wa-an-da versus mi-la-wa-ta.
Das Suix geht auf ererbtes */-went- ≈ -wnt-/ zurück, das im Anatolischen in bei˚ Heth. /-wad-/ hingegen lässt sich als
den Ablautstufen zu */-wand-/ führen muss.
Fortsetzung des griechischen */-wet-/ erklären, das dort als analogische, nach der
Vollstufe */-wént-/ gebildete Ersatzform des ursprünglichen */-wnt-/ dient : vgl.
˚
hom. mhtiveta (Zeuv~) < */-wet-a¯-/ statt */-wat-a¯-/ <*/-wnt-/.
˚
All dieser gegenseitigen sprachlichen Adaptionen zum Trotz lassen sich zwei
Tendenzen feststellen :
• Die Spuren anatolischer Onomastik sind auf den mykenischen Quellen zahlreicher als umgekehrt die Spuren griechischer Onomastik auf hethitisch-anatolischen Quellen.
• Die auf mykenischen Quellen belegten Spuren anatolischer Onomastik weisen
zu einem beträchtlichen Teil auf die oben genannte, archäologisch manifeste
Kontaktzone um Milet. Umgekehrt scheinen die Spuren griechischer Onomastik auf hethitisch-anatolischen Quellen bestenfalls indirekt in einem Kontext
zur betrefenden Kontaktzone zu stehen. Vielmehr sind sie im Kontext von
Wiluša anzusiedeln.
Diese Tendenzen können auf den Zufall der Überlieferung oder die unterschiedliche Art der Überlieferung zurückzuführen sein. Sie lassen sich aber auch
dergestalt interpretieren, dass der griechisch-anatolische Spracheinluss einseitig
(also von Ost nach West) und wenig nachhaltig erfolgt ist – zumal die ca. 350 Jahre
währende Zone, an der ein intensiverer Kontakt möglich gewesen wäre, lächenmäßig überschaubar ist. Diese erste Bestandsaufnahme führt zu folgendem, provisorischem Fazit : Die archäologische und historische Evidenz legt das Szenario
eines Sprachbunds zumindest nicht nahe.
3. Theoretische Grundlagen des Sprachkontakts
Sprachkontakt manifestiert sich in Entlehnungen unterschiedlicher Intensität –
wobei der Begrif “Entlehnung” in den folgenden Ausführungen in einem weitge1 Diskussion bei Beekes (2003).
2 S. zur Aphärese Melchert (1994 : 276).
108
ivo hajnal
fassten Sinn verwendet wird, also von der lexikalischen Entlehnung bis zur strukturellen Entlehnung und damit zu kontaktbedingtem Wandel ganzer sprachlicher
Kategorien reicht. 1 Die aktuelle Sprachkontaktforschung rechnet mit festen Bedingungen sowie Szenarien, die Entlehnung ermöglichen beziehungsweise prägen. Um den linguistischen Befund, der – abgesehen von der in 2. beschriebenen
Onomastik – als Beleg für griechisch-anatolischen Sprachkontakt dient, korrekt
zu beurteilen, ist vorweg die Kenntnis dieser Bedingungen und Szenarien erforderlich. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen :
1) Entlehnungen erfolgen immer von einer Gebersprache (GS) zu einer Nehmersprache (NS). Sie lassen sich dabei wie folgt typologisieren : 2
• Die treibende Kraft hinter den Entlehnungen sind die Sprecher der NS. Beispiel :
Mykener übernehmen in ihre Erstsprache Griechisch anatolische Lehnwörter.
• Die treibende Kraft hinter den Entlehnungen sind die Sprecher der GS. Beispiel : Anatolier übernehmen in ihrer Zweitsprache Griechisch syntaktische
Konstruktionen aus ihrer anatolischen Erstsprache.
In stark bilingualen Situationen besteht Komplementarität : Ein- und dieselbe
Sprache kann situationsbedingt als NS wie GS fungieren. 3 So etwa in Fällen, in
denen Sprecher sowohl Elemente ihrer Erstsprache auf ihre Zweitsprache wie
auch Elemente ihrer Zweitsprache auf ihre Erstsprache übertragen.
2) Sprachkontakt beruht stets auf sozialen Beziehungen. 4 Zwar lassen Entlehnungen keine verbindlichen Rückschlüsse auf die soziolinguistische Situation
und damit auf die Intensität des Sprachkontakts zu. 5 Doch gestattet die empirisch
festgestellte Praxis die folgende Feststellung :
• Lexikalische Entlehnungen sind bereits bei einem losen Kontakt zwischen zwei
Sprachgemeinschaften möglich – wobei die treibende Kraft hinter den Entlehnungen in der Regel die Sprecher der NS oder der GS sind.
• Hingegen erfordern strukturelle Entlehnungen auf phonologischer, morphologischer oder syntaktischer Ebene einen intensiven Kontakt beziehungsweise
eine bilinguale Situation – wobei die treibende Kraft hinter den Entlehnungen
in der Regel die Sprecher der GS sind.
3) Folglich lassen sich die folgenden beiden, empirisch reichlich belegten Entlehnungsszenarien annehmen : 6
(i) Szenario von losem Kontakt
lexikalische Lexikon
Entlehnung
geringe bis zahlreiche
Entlehnungen
(ii) Szenario von intensivem
Kontakt
vereinzelte Entlehnungen
1 S. die Typologie von kontaktbedingtem Wandel bei Aikhenvald/Dixon (2001b : 16f.). Eine Übersicht zur Vielfalt von Lehnbeziehungen und ihrer Ursachen vermitteln ferner Curnow (2001 : 417f.)
sowie Thomason (2001 : 59f.).
2 So zuletzt nach Winford (2005).
3 Winford (2005 : 382).
4 In diesem Sinne Thomason (2008).
5 Diskussion bei Heine/Kuteva (2008 : 76f.).
6 So in Anlehnung an Thomason/Kaufman (1988 : 37f. und 65f.).
die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 109
(i) Szenario von losem Kontakt
Phonologie
strukturelle
Entlehnung
Morphologie
Syntax
keine Interferenzen (allenfalls
bei zahlreichen bilingualen
Sprechern)
allenfalls Lehnmorphologie
(über Entlehnungen im
Wortschatz)
keine Interferenzen
(ii) Szenario von intensivem
Kontakt
zahlreiche Interferenzen
i.d.R. wenig
Lehnmorphologie
zahlreiche Interferenzen
4) Die Möglichkeiten von struktureller Entlehnung beziehungsweise Sprachwandel durch Sprachkontakt sind durch die Struktur der Nehmersprache (NS) beschränkt. 1 In diesem Sinne durchläuft die NS unter Sprachkontakt keine morphologischen oder syntaktischen Wandel, die strukturwidrig sind.
5) Strukturelle Entlehnung beziehungsweise Sprachwandel durch Sprachkontakt folgt ferner den bekannten Pfaden der Grammatikalisierung. 2 Anders gesagt :
Führt Sprachkontakt zu strukturellen Entlehnungen, dann folgen diese immer
der Richtung von Sprachwandel, der nicht durch Sprachkontakt ausgelöst ist.
Um diese Einschränkung anhand eines konkreten Beispiels zu illustrieren : Im
modernen Griechischen geht das Futur auf ein Verb des ‘Wollens’ zurück. Dasselbe gilt für die Mehrzahl der Balkansprachen wie das Toskisch-Albanische, Rumänische, Mazedonische, Bulgarische und Serbo-Kroatische. Die Annahme eines
Sprachbund-Phänomens liegt nahe und ist im Übrigen unproblematisch. Denn
der Grammatikalisierungspfad von ‘wollen’ zu einem Futurausdruck ist trivial 3
und wäre im Griechischen unter Umständen auch ohne Einluss der umliegenden Sprachen erfolgt. Abgesehen davon ist jeder Schritt der Grammatikalisierung
auch ohne Sprachkontakt möglich und plausibel. Die einzelnen Schritte lauten : 4
i) Fortlaufender Ersatz des Ininitivs : /thélo¯ gráphein/ → hellenist. /thélo¯ hina grápho¯/ ‘ich will schreiben’.
ii) Semantische Neuordnung : ‘ich will schreiben’ > ‘ich werde schreiben’.
iii) Verlust von /-n #/ : 1.Pers.Sg. /thélo¯ gráphei/, 3.Pers.Sg. /thélei gráphei/.
iv) Reanalyse (nach 3.Pers.Sg.) : mittelgriech. /thélo¯ grápho¯/.
v) Synkretismus mit Nebensatz-Konstruktion (gemäß i) : /thélo¯ (hina) grápho¯/.
vi) Beseitigung der redundanten Angabe der Person : /qéli (na) gráfo/.
vii) Phonologische Reduktion, Deakzentuierung : /qa gráfo/.
Damit sei nicht gesagt, dass der Wandel ohne Einluss der umgebenden Sprachen
zustande gekommen wäre. In den Worten von Brian D. Joseph (am Beispiel des
Verlusts des Ininitivs in den Balkansprachen) : “That is, purely language internal
1 Silva-Corvalán (2008, besonders S. 221 : “The studies discussed strongly support my proposal that
transfer is constrained by the structure of the languages involved, and contradicts the claim that « anything goes » …”).
2 S. hierzu die Überlegungen von Heine/Kuteva (2008).
3 Heine/Kuteva (2005 : 103f.) illustrieren dieses ‘devolitive’ Schema bei der Entstehung eines Futurs
anhand zahlreicher Beispiele.
4 S. für die folgende Darstellung Joseph (2001).
110
ivo hajnal
explanations for Sprachbund phenomena have a hard time accounting for any
instances of convergence among the languages in question ; even if languageinternal accounts can be developed for the loss of the ininitive in the Balkan
languages, there is no explanation for why all these languages should happen to
coincide on this feature to the considerable degree they do – it becomes totally accidental that these languages which are clustered together geographically should
independently have all innovated in the same way. On the other hand, a purely
language-contact explanation for such phenomena tends to ignore real facts internal to each language which could, or perhaps must, have made some contribution
to the ultimate development of the feature.” 1
Durch griechisch-anatolischen Sprachkontakt bedingte Entlehnungen müssen
diesen fünf Bedingungen bzw. Szenarien entsprechen.
4. Lexikalische Entlehnungen
Vorweg sei auf Folgendes verwiesen : In der Fachliteratur werden lexikalische –
wie auch strukturelle Entlehnungen (s. 5.) – immer nur für die griechische Sprache angenommen. Dies entspricht dem in 2. gewonnenen Eindruck, wonach die
Spuren anatolischer Onomastik auf mykenischen Tafeln deutlich umfangreicher
sind als umgekehrt die Spuren mykenischer Onomastik in anatolisch-hethitischen
Quellen.
Damit ein griechisches Lexem als Entlehnung aus den anatolischen Sprachen
identiiziert werden kann, muss es zumindest drei der folgenden Bedingungen
erfüllen : 2
1) Seine phonologische Gestalt entspricht präzise derjenigen der anatolischen
Gebersprache – beziehungsweise lässt sich bei Divergenzen plausibel durch
die Wiedergabe von Fremdphonemen im Griechischen rechtfertigen.
2) Seine Wortbedeutung entspricht derjenigen der anatolischen Gebersprache
oder lässt sich plausibel von dieser herleiten.
3) Als Quelle bietet sich keine andere Gebersprache an.
4) In ihm inden sich Spuren von Phonologie oder Morphologie der anatolischen Gebersprache.
Diese Bedingungen reduzieren die Zahl der griechischen Lexeme, die als Entlehnungen aus den anatolischen Sprachen in Frage kommen, erheblich. Von den
als anatolische Entlehnungen ins Spiel gebrachten griechischen Lexemen bestehen einzig die folgenden die Prüfung :
• devpa~/myk. di-pa ‘Becher ; Gefäß’, evtl. aus hluw. (Caelum)ti-pa-sº ‘Himmel’. 3
• kuvmbalon ‘Zymbale’, evtl. aus heth. GIŠh¢uh¢upal ‘(ein hölzernes Schlaginstrument)’. 4
1 Joseph (1982 : 2).
2 S. Hajnal (im Druck).
3 Zur Semantik sei ergänzt, dass das hieroglyphenluwische Ideogramm Caelum eine Schale abbildet. Zudem wird das hethitische Äquivalent ne¯piš ‘Himmel’ gelegentlich auch in der Bedeutung ‘Becher’ verwendet. S. Neu (1999) sowie für weitergehende Überlegungen Watkins (2007 : 319f.).
4 Griech. /ºmbº/ dient hier nach Hajnal (1993) – wie im folgenden kuvmbaco~ – als (vor)mykenische
Wiedergabe von fremdem /ºbº/.
die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 111
• kuvpellon ‘Becher’, evtl. aus der heth. Gefäßbezeichnung dugkukupalla- oder zu
kluw. h¢upalla/i- (und heth. (Uzu) h¢upallaš -) ‘Schädel’. 1
• kuvmbaco~ ‘Helmkrone’, evtl. aus heth. kupah¢i- (aus hurrit. ku(-ú)-wa4-h¢i).
• movlubdo~/myk. mo-ri-wo-do ‘Blei’, evtl. aus anatol. (Adj.) */morkw-io-/ ‘dunkel’
wie im lydischen Theonym mariwda(s´)-k ‘die Dunklen’. 2
• toluvph ‘Wollknäuel’, evtl. aus heth. taluppa- (bzw. kluw. taluppa/i-) ‘Klumpen’. 3
Im Rahmen dieser Zusammenstellung fällt zweierlei auf :
• Erstens ist die Anzahl anatolischer Entlehnungen im griechischen Wortschatz
sehr gering. Zum Vergleich sei darauf verwiesen, dass für weniger als die Hälfte
des altgriechischen Wortschatzes eine indogermanische Etymologie besteht. 4
Selbst wenn die oben genannte Liste erheblich wachsen würde, bliebe der Anteil anatolischen Wortguts im griechischen Lexikon gering.
• Zweitens sind die gesicherten Entlehnungen nicht auf anatolisches Herkunftsgebiet beschränkt. Sie stammen vielmehr ebenso aus der hethitischen Palatialsphäre wie aus dem luwischen und lydischen Sprachgebiet. Gemein ist ihnen
jedoch, dass sie Innovationen und Kulturgüter bezeichnen.
5. Strukturelle Entlehnungen
Neben den lexikalischen Entlehnungen sind in der Fachliteratur bislang eine Reihe von morphologischen und syntaktischen Zügen des Griechischen als strukturelle Entlehnungen aus dem anatolischen Sprachraum zur Diskussion gestellt
worden. 5 In allen bislang bekannten Fällen scheitert der endgültige Nachweis
anatolischer Provenienz spätestens dann, wenn die linguistischen Verhältnisse
korrekt berücksichtigt werden. Um diese Behauptung an zwei konkreten Thesen
zu veranschaulichen :
These 1) : Der archaische Gebrauch der Adjektive auf -io- im griechischen Dialekt von Lesbos soll auf die Inferenz der umgebenden anatolischen Sprachen zurückgehen. 6
Kommentar : Tatsächlich setzen gerade die luwischen Sprachen das ererbte Sufixes *-io- reichhaltig fort. 7 Doch hinter den io-Adjektiven auf Lesbos ein Sprachkontaktphänomen zu erkennen, wird dann wenig plausibel, wenn den genauen
Verhältnissen im Griechischen wie in den anatolischen Sprachen Rechnung getragen wird :
• io-Adjektive, welche die Zugehörigkeit von Gegenständen benennen (vgl. thessal. Anfioneia a stala toufronet¯ o~), sind im Lesbischen nicht belegt, 8 in den
anatolischen Sprachen jedoch einschlägige Praxis. Diese Diskrepanz ist schwer
1 Vgl. zur semantischen Entwicklung lat. testa ‘Scherbe, Gefäß’ vs. frz. tête ‘Kopf ’.
2 Die phonologische Entwicklung */morkw-io-/ > */marwido-/ > */mariwdo-/ mit Entwicklung
von */ºVjVº/ > /ºVdVº/ erweist movlubdo~/mo-ri-wo-do als Lehnwort aus dem Lydischen. S. Melchert
(2008).
3 Melchert (1998).
4 Morpurgo Davies (1986 : 105).
5 Vollständige Übersicht bei Hajnal (im Druck).
6 So Watkins (2001 : 58).
7 Melchert (1990).
8 Hodot (1990 : 228).
112
ivo hajnal
zu erklären, wenn sich das Lesbische von den anatolischen Sprachen hätte beeinlussen lassen.
• Seit mykenischer Zeit bestehen starke Interferenzen zwischen den Zugehörigkeitsadjektiven auf /-io-/ und den Stofadjektiven auf /-ejo-/. 1 Wie das Mykenische (vgl. myk. wi-ri-ni-jo /wrı¯n-io-/ neben wi-ri-ne-jo /wrı¯n-ejo-/ ‘aus Leder’)
belegt auch das Lesbische Stofadjektive auf /-io-/ statt */-e(j)o-/ : vgl. lesb. crusio~, calkio~ (statt *cruseo~, *calkeo~). 2 Dies spricht dafür, den lesbischen
Gebrauch von /-io-/ grundsätzlich – also auch bei Patronymika – als unabhängigen Archaismus zu bewerten.
• In den luwischen Sprachen erscheint das Zugehörigkeitsadjektiv auf */-io-/ in
‘i-mutierter’ Form als */-ijo/ı¯-/. Sein urluwisches Paradigma lautet folglich :
Nom.Sg. comm. */-ı¯s/ < */-ijis/, Akk.Sg. comm. */-ı¯n/ < */-ijin/, Nom./Akk.
Sg. ntr. */-ijon/ < */-ion/ usw. 3 Sollte ein Einluss der anatolischen Sprachen
auf das Griechische bestehen, wäre anzunehmen, dass sich dieser Stammwechsel im Griechischen bemerkbar macht, zumal das Griechische über Stämme
auf */-ı¯s/ verfügt. Dies ist nicht der Fall – bzw. erst in hellenistischer Zeit. Denn
der erwartete Einluss ist ab der späthellenistischen Periode im Griechischen
Anatoliens nachweisbar, wo sich die Grenze zwischen den Nominalstämmen
auf -io und -i~ aufweicht : vgl. etwa das Anthroponym Tarasi~ versus Tarasio~ (Pisidien, Lykien usw.). 4
In diesem Sinne bestehen keinerlei bronzezeitlichen Inferenzen zwischen lesbischem Dialekt und anatolischen Sprachen – was im Übrigen auch aus archäologischer und historischer Sicht unplausibel wäre : Die äolische Wanderung ist
im Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit anzusetzen. 5 Zuvor ist Lesbos Teil
der hethitischen Einlusssphäre 6 bzw. im Spannungsfeld zwischen Mykenern und
hethitischem Großreich. 7 Von einer festen griechischen Präsenz in Lesbos ist zur
Bronzezeit hingegen nicht auszugehen.
These 2) : Die homerische Partikel -tar wird in vielen Editionen als t’a[r verkannt. 8 Sie soll als bronzezeitlicher Bestandteil der homerischen Sprache in ihrer
Gebrauchsweise der luwischen Partikel /-tar/ entsprechen und von dieser beeinlusst sein. 9
Kommentar : Tatsächlich bestehen in den Gebrauchsweisen von hom. -tar und
luw. /-tar/ Parallelen : Das Wortstellungsmuster */# Verb + -tar/ indet sich bei
Homer (z.B. Hom., Il., L 254 rJivghsevn tar <t’a[r’> e[peita a[nax ajndrw`n ∆Agamevmnwn) wie im Keilschriftluwischen (vgl. kluw. KUB XXXV 43 II 36 DTarh¢unza
mammanna-tar ‘Tarh¢unt, sei gewogen’). Allerdings ist die Partikel /-tar/ in beiden Sprachen nur schwer fassbar : Kluw. -tar entspricht funktional der hethitischen Satzpartikel -šan und besitzt eine lokativische Nuance. 10 Da sowohl heth.
1
4
6
7
9
10
Überblick bei Hajnal (1994).
2 Hodot (1990 : 233f.).
3 Melchert (1990).
Brixhe (1987 : 67).
5 Rose (2008).
S. auch das bei Mason (2008) zusammengetragene Material.
S. die Interpretation von Singer (2008).
8 Zur Textgeschichte ausführlich Katz (2007).
So zuletzt Watkins (1997 : 618).
Zusammenfassung bei Yakubovich (2008a : 177f. sowie 2010 : 141f.).
die griechisch-anatolischen sprachkontakte zur bronzezeit 113
-šan wie kluw. -tar in der satzeinleitenden Partikelkette an letzter Stelle stehen,
scheinen sie adverbiellen Ursprungs und modiizieren das Verb in Aktionsart bzw.
Aspekt. Die homerische Partikel -tar tritt hingegen regelmäßig in Zweitstellung
auf. Diese Zweitstellung ist bei Homer für Diskurspartikeln die Regel. 1 Daher
liegt es nahe, in -tar eine Diskurspartikel zu erkennen. Dann ist hom. -tar aber
kaum mit kluw. -tar zu verknüpfen, das – wie gesagt – jeweils die Letztstellung in
der Partikelkette einnimmt. Eine etymologische sowie areallinguistische Verbindung lässt sich vorerst also nicht belegen. 2
Eine genaue linguistische Analyse zeigt folglich, dass die beiden Thesen abzulehnen sind – zumal sie auch nicht den in 3. formulierten Bedingungen bzw.
Szenarien entsprechen : Da Sprachkontakt den Pfaden der Grammatikalisierung
folgt, kann eine Gebersprache (GS) nicht Strukturmerkmale der Nehmersprache
(NS) beeinlussen, soweit diese weiter entwickelt sind. Genau dies ist jedoch in
den beiden Beispielen der Fall :
• Zu These 1) : Im Lesbischen sind io-Adjektive den Patronymika vorbehalten und
damit im Gebrauch bereits weiter formalisiert als ihre anatolischen Entsprechungen, die noch als allgemeine Zugehörigkeitsadjektive dienen. Wie oben
hätte eine strukturelle Entlehnung damit bestenfalls vom Griechischen in die
anatolischen Sprachen wirken können.
• Zu These 2) : Als enklitische Diskurspartikel und damit als Funktionswort ist hom.
-tar weiter grammatikalisiert als das luwische -tar, das ofenkundig lokale, semantisch zuordbare Funktionen einnimmt. 3 Ein strukturelle Entlehnung hätte
bestenfalls vom Griechischen ins Luwische wirken und dort die Entwicklung von
/-tar/ beschleunigen können.
Die Annahme struktureller Entlehnungen im Griechischen ist bis auf Weiteres
demnach abzulehnen.
6. Zusammenfassung und Fazit
Der bronzezeitliche Befund spricht eine klare Sprache und lässt sich – in Anlehnung an 3. – wie folgt zusammenfassen :
• Ohne Zweifel bestehen in der Bronzezeit Sprachkontakte zwischen mykenischem Griechisch und anatolischen Sprachen. Ihre Wirkung verläuft allerdings
nicht reziprok, sondern von Ost nach West bzw. von Vorderasien in die Ägäis
und nach Griechenland.
• Die gesicherten Entlehnungen beschränken sich auf das griechische Lexikon
und sind in ihrer Anzahl überschaubar. Strukturelle Entlehnungen im Griechischen aus den anatolischen Sprachen liegen keine vor.
1 Zur Stellung der Partikeln bei Homer zuletzt Hajnal (2004).
2 Katz (2007) weist zudem darauf hin, dass kluw. -tar stets mit Lenisschreibung auftritt – sodass u.U.
eine Vorform mit anlautendem */# dº/, evtl. */-d(h)r/, vorliegt. In diesem Fall fällt eine Verknüpfung
˚
mit hom. -tar ohnehin außer Betracht.
3 Vgl. für den Grammatikalisierungspfad von Ortsadverb zu Diskurspartikel die Entwicklung von
dt. denn ‘eigentlich’ in Aussagen wie Wie spät ist es denn ? Zugrunde liegt altes danne/thanne als Ortsbzw. späteres Zeitadverb. S. hierzu Wegener (2002).
114
ivo hajnal
• Damit ist der Sprachkontakt von relativ geringer Intensität und wird von den
Griechen selbst getragen. Sie sind es, die eigeninitiativ Begrife für Innovationen und Kulturgüter aus den ihnen bekannten anatolischen Sprachen in ihr
Lexikon aufnehmen.
• Strukturelle Änderungen im Griechischen fehlen – und damit auch jegliche
Hinweise, die auf eine bilinguale Situation deuten könnten.
Das Fazit deckt sich somit mit dem zu Beginn präsentierten archäologischen und
historischen Befund, wonach die griechisch-anatolische Kontaktzone begrenzt
ist. Konkret fehlt in der Bronzezeit wohl die ‘kritische Masse’ an großen, urbanen
Zentren, in denen sich sprachliche Konvergenz zunächst einstellt, um in der Folge auf die ländlichen Regionen überzugreifen. 1
Erschwerend tritt hinzu, dass bislang Kontakte nur auf diplomatischer und damit elitärer Ebene nachgewiesen sind – wobei bezweifelt werden muss, dass die
beiden Regentenhäuser jeweils die Sprache der Gegenseite beherrscht haben. Damit sind die Voraussetzungen für eine lebendige Durchmischung von Sprechergemeinschaften und einen gewissen Grad an Bilingualität auf allen sozialen Ebenen
der Gesellschaft nicht gegeben – weshalb unser Ergebnis wenig überrascht.
Anders als in der Bronzezeit präsentiert sich die Situation im ersten vorchristlichen Jahrtausend : Hier treibt der Einluss der anatolischen Sprachen die Grammatikalisierung im Griechischen voran, was den Weg für strukturelle Änderungen ebnet. So kennt der Dialekt Pamphyliens beispielsweise einen Rhotazismus
/ºVdVº/ > /ºVðVº/ > /ºVrº/ (z.B. in pamph. Epitimirau < *Epitimidau), 2 wie
er für die luwischen Sprachen bereits im ausgehenden zweiten bzw. angehenden
ersten Jahrtausend bezeugt ist. 3
Damit lässt sich die im Titel gestellte Ausgangsfrage eindeutig beantworten :
In der Bronzezeit kann von einem griechisch-anatolischen Sprachbund nicht die
Rede sein. Vielmehr präsentiert sich das Verhältnis von Griechisch und den anatolischen Sprachen als eher distanziert.
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1 S. das bei Joseph (2000) gezeichnete Szenario.
3 Melchert (1994 : 237).
2 Brixhe (1976 : 83f.).
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